Priorisierung im Unternehmen: Warum „Prio 1“ eine Lüge ist
Wir haben verlernt, „Nein“ zu sagen. Dieser Artikel zeigt, warum To-Do-Listen Ihr Team verlangsamen – und wie Sie mit einer radikalen Triage-Methode (Now, Later, Kill) wieder echten Fokus gewinnen.
Teil der Reihe „Decision-OS Insights“ – wie Sie aus Projekten und Prioritäten ein belastbares Betriebssystem statt einer endlosen Aufgabenliste machen.
Priorisierung im Unternehmen: Warum „Prio 1“ eine Lüge ist
Wir haben verlernt, „Nein“ zu sagen. In vielen Unternehmen ist „Prio 1“ zur Beruhigungsformel geworden, mit der man Konflikte vermeidet – und zugleich jede echte Priorisierung unmöglich macht. Dieser Artikel zeigt, warum klassische To-Do-Listen und aufgeblähte Backlogs Ihr Team verlangsamen und wie Sie mit der Triage-Methode Now, Later, Kill den Fokus zurückgewinnen.
Die Inflation der Wichtigkeit
Kennen Sie das? Sie bitten Ihr Team, die laufenden Projekte zu priorisieren. Das Ergebnis:
- fünf Projekte sind „Prio A“,
- drei Projekte sind „Prio A+“,
- und eines ist „Mission Critical“.
Wenn alles wichtig ist, ist nichts wichtig. Wir leben in einer Ära der Prioritäts-Inflation. Das Wort „Priorität“ (vom lateinischen prior) war bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Singular. Es gab nur die Priorität – das eine Thema, das vor allem anderen kommt. Erst die moderne Arbeitswelt hat den Plural „Prioritäten“ erfunden – und damit das Konzept entkernt.
Warum tun wir das? Aus Angst. Priorisieren heißt, zu entscheiden, was wir nicht tun. Und wie wir im Decision-OS gelernt haben, tut dieses Abschneiden (lat. decidere) weh. Unser Gehirn reagiert auf Verlust (Loss Aversion) stärker als auf Gewinn. Also sagen wir lieber zu allem „Ja“, „Prio 1“ oder „nehmen wir mit“. Das Ergebnis ist ein Stau: Ressourcen werden so dünn über alle Themen verteilt, dass keins davon wirklich schnell vorankommt.
Der Fehler: Backlogs als Müllhalden
Besonders im agilen Umfeld versuchen Unternehmen das Problem mit „Backlogs“ zu lösen. Wir schreiben alles auf eine Liste, was wir „irgendwann“ machen wollen. Das fühlt sich organisiert an – ist aber gefährlich.
Ein Backlog, der nicht aggressiv bereinigt wird, ist keine Pipeline, sondern eine Müllhalde. Er erzeugt kognitive Schulden: Jedes Ticket, das dort liegt, produziert ein diffuses Gefühl von „Ich müsste noch…“ – bei Product Ownern, bei Führungskräften, beim Team.
Das Problem ist nicht, dass zu wenig aufgeschrieben wird. Das Problem ist, dass zu wenig gestrichen wird. Wir brauchen kein besseres Listen-Management. Wir brauchen eine Logik, die Projekte so sortiert wie eine Notaufnahme Patienten behandelt: nach Härte, Dringlichkeit und Überlebenswahrscheinlichkeit.
Die Lösung: Triage statt To-Do
Im Decision-OS Framework adaptieren wir das Prinzip der Triage aus der Notfallmedizin. Wenn Ressourcen (Ärzte, Zeit, Operationssäle) knapp sind, kann man nicht jeden Patienten gleich behandeln. Man muss hart sortieren, sonst sterben die Falschen.
Im „Clean-up Sprint“ wenden wir diese Logik auf Projekte an. Es gibt keine Skala von 1 bis 10, keine A–C-Listen, keine „Prio 1–3“. Es gibt nur drei Eimer:
Eimer 1: NOW – der Fokus
Definition: Muss zwingend in diesem Zyklus (z. B. Sprint, Monat oder Quartal) entschieden oder umgesetzt werden.
Regel: Dieser Eimer ist streng limitiert – typischerweise auf maximal drei Themen. Nur was hier drin ist, bekommt Ressourcen. Meetings, in denen ein „Now“-Item steht, dienen nur diesem einen Zweck: Blockaden lösen, Entscheidungen treffen, Fortschritt erzeugen.
Alles andere ist Nebengeräusch. In diesem Eimer herrscht Progress, nicht nur Motion.
Eimer 2: LATER – der Parkplatz
Definition: Ist wichtig, aber es gibt aktuell keine Kapazität – oder andere Themen haben objektiv Vorrang.
Der psychologische Trick: Wir sagen nicht „Nein“, wir sagen „Nicht jetzt“. Das beruhigt die Verlustangst von Stakeholdern. Aber: „Later“ heißt im Decision-OS auch, dass das Thema niemanden blockiert. Es landet in einem „Deep-Freeze“-Speicher:
- Es taucht nicht jede Woche wieder auf der Agenda auf.
- Es verbraucht keine Meeting-Zeit.
- Es zieht keine verdeckten Ressourcen im Hintergrund.
„Later“ ist damit eine bewusste Parkbucht – kein heimlicher „Prio-1-in-Warteposition“-Status.
Eimer 3: KILL – die Befreiung
Definition: Wir entscheiden uns aktiv dagegen. Wir machen es nicht – nicht jetzt, nicht später.
Das ist der wichtigste Eimer. In den meisten Firmen ist „Kill“ kein anerkannter Status. Projekte sterben dort einen langsamen, qualvollen Tod durch Ressourcenentzug. Man „lässt sie auslaufen“, statt sie klar zu beenden. Das erzeugt Zynismus:
„Warum soll ich mich reinhängen? In drei Monaten wird das Projekt sowieso wieder leise beerdigt.“
Im Decision-OS töten wir Projekte offen und ehrlich. Ein Killed-Projekt bekommt einen Eintrag im Decision-Log, inklusive kurzer Begründung. Das gibt dem Team ein klares Signal: „Es ist vorbei.“ Und: „Wir haben Kapazität gewonnen.“
Warum Sie eine „Kill-Rate“ brauchen
Wenn Sie keine Projekte töten, verstopft Ihr System zwangsläufig. Irgendwann arbeiten alle an allem – und nichts wird fertig.
Deshalb messen wir im Decision-OS die Strategic Kill-Rate:
- 0 % Kill-Rate: Sie haben keine Strategie. Sie sammeln Ideen.
- ca. 20 % Kill-Rate: Sie haben Fokus. Sie haben den Mut, Ressourcen von den Verlierern abzuziehen, um sie auf die Gewinner zu konzentrieren.
Eine definierte Kill-Rate ist kein Zeichen von Zerstörungslust, sondern von Führung. Sie macht sichtbar, dass Entscheidungen getroffen werden – auch unpopuläre.
Das Ritual: Kill your Darlings
Priorisierung darf nicht nur am Schreibtisch passieren. Sie muss im Meeting passieren, damit alle das „Nein“ hören – und verstehen.
Führen Sie einmal im Quartal einen „Kill your Darlings“-Workshop durch:
- Sie gehen die Liste der laufenden Projekte durch.
- Sie stellen bei jedem Projekt nicht die Frage „Ist das nützlich?“ – nützlich ist fast alles.
- Sie stellen die Frage: „Wenn wir das heute nicht schon tun würden – würden wir es heute neu starten?“
Wenn die ehrliche Antwort „Nein“ lautet: Kill. Tragen Sie das Projekt mit Status Killed ins Decision-Log ein, begründen Sie die Entscheidung kurz – und feiern Sie die gewonnene Kapazität.
Fazit: Strategie ist Verzicht
Steve Jobs sagte einmal: „People think focus means saying yes to the thing you've got to focus on. But that's not what it means at all. It means saying no to the hundred other good ideas that there are.“
Echte Produktivität entsteht nicht dadurch, dass man immer mehr Dinge tut. Sie entsteht dadurch, dass man die wenigen richtigen Dinge mit voller Kraft tut – und den Rest bewusst nicht tut.
Hören Sie auf, Aufgaben zu stapeln. Fangen Sie an zu sortieren. Ihre Prioritätenliste ist kein Wunschzettel, sondern ein Schuldentilgungsplan für die Zukunft Ihrer Organisation.
Priorisierung radikal denken – statt To-Do-Listen zu polieren
Viele Inhalte rund um Priorisierungsmethoden, Eisenhower-Matrix oder Zeitmanagement bleiben an der Oberfläche: bessere Listen, clevere Quadranten, neue Tools. Das Problem: Sie adressieren Einzelpersonen – nicht die Governance der Organisation.
Wenn Sie als Führungsteam wirklich etwas verändern wollen, reicht es nicht, noch ein Kanban-Board einzuführen oder den Backlog „schöner“ zu pflegen. Sie brauchen eine strukturelle Triage, die kollektive Entscheidungskraft freilegt:
- Ein klarer Clean-up Sprint, in dem Projekte nicht nur sortiert, sondern beerdigt werden.
- Eine definierte Kill-Rate, die zeigt, dass Strategie auch Verzicht bedeutet.
- Ein Decision-Log, das dokumentiert, was bewusst auf „Now“, „Later“ oder „Kill“ gesetzt wurde.
Genau hier setzt Decision-OS an: als Betriebssystem für Entscheidungen, das psychologische Effekte wie Loss Aversion ernst nimmt – und ihnen mit klaren Ritualen begegnet. Nicht als weiteres Tool, sondern als Architektur für Fokus.
Wenn Sie merken, dass Ihre Roadmap wächst, Ihre Durchlaufzeiten steigen und Ihr Team sich trotzdem „busy“ statt wirksam fühlt, ist das kein Hinweis auf mangelnden Einsatz. Es ist ein Zeichen dafür, dass Ihre Priorisierungslogik nicht mehr zur Komplexität Ihres Geschäfts passt.
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